Lebensspuren im Häusermeer
Spannende Einblicke in die jüdische Sozialgeschichte des Bayerischen Viertels mit Historiker Ralf Oberndörfer
18. Juni 2024
Die Führung „Lebensspuren im Häusermeer“ führt in zweieinhalb Stunden durch das Bayerische Viertel in Berlin-Schöneberg. Der Historiker Ralf Oberndörfer, der den Rundgang zusammen mit Dr. Gabriele Zürn und Dr. Alexander Ruoff entwickelt hat, führt die Teilnehmenden vom Pestalozzi-Fröbel-Haus bis zum Bayerischen Platz. Anschaulich erklärt er die Entstehungsgeschichte des Viertels, das zwischen 1906 und 1910 errichtet wurde und häufig als „Jüdische Schweiz“ bezeichnet wurde – eine Anspielung auf Reichtum und klischeehaft für den angeblich „reichen Juden“ benutzt. Dass diese und weitere Klischees brüchig werden, erfahren die Teilnehmenden im Verlauf der Führung immer wieder. Oberndörfer berichtet von Alltag und Armut im Viertel, von Verfolgung und Überlebensstrategien, Zerstörung und Erinnerung.
Dass die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg besonders im nördlichen Teil des Viertels groß war, lässt sich anhand einer Karte erfassen, die Oberndörfer den Teilnehmenden zeigt. In der Freisinger Straße finden sich heute zum Beispiel nur noch zwei Altbauten, die den Krieg überstanden haben – die Hausnummern 3 und 6. Stolpersteine zeugen an vielen Stellen im Viertel von den Schicksalen der Jüdinnen und Juden, die hier einst gelebt haben. Oberndörfer erzählt von Bewohner*innen des Hauses in der Freisinger Straße 8, die völlig mittellos waren, als sie in die Vernichtungslager deportiert wurden, von den perfiden Strategien des NS-Regimes der Enteignung und der vertuschenden Sprache, wenn in historischen Dokumenten zum Beispiel die Rede von „evakuierten Juden“ ist.
Oberndörfer hält an vielen Orten im Viertel inne. Er berichtet von der ehemaligen koscheren Metzgerei am Barbarossaplatz und porträtiert die Geschichte des Hauses gegenüber, das heute Grundschule und Volkshochschule beheimatet, zeigt Dokumente und Karten und macht die jüdische Geschichte des Viertels auch anhand von Einzelschicksalen erlebbar. Die Führung endet am Denkmal für die Synagoge in der Münchener Straße. Sie wurde in der Reichsprogromnacht 1938 auf Grund der Nähe zu Wohnhäusern nicht angezündet, jedoch 1956 abgerissen. Heute steht an ihrer Stelle eine Grundschule, die sich mit der historischen Vergangenheit des Grundstücks in Projekten auseinandersetzt.